Das ENSO-Phänomen

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ENSO-Lexikon

Kelvin-Welle

Eine nach dem britischen Physiker Lord Kelvin (1824–1907) benannte Welle, die sich im Gegensatz zur Wasserwelle nicht frei über die ganze Wasseroberfläche ausbreitet, sondern sich nur in schmalen Gürteln (Wellenleitern) entlang topographischer Berandungen von rotierenden Flüssigkeiten, wie zum Beispiel im Ozean an Küsten und entlang des Äquators sowie in der Atmosphäre ausbreiten kann.

Die für das ENSO-Phänomen bedeutsame äquatoriale Kelvin-Welle ist eine lineare Welle mit entweder erhöhten oder verminderten Temperaturen. Dieser Wellentyp bewegt sich (unidirektional) ostwärts entlang des Äquators mit einer Geschwindigkeit von ca. 2,5 m/s, dies entspricht ca. 200 km/Tag. Kelvinwellen können so den Pazifik in 2-3 Monaten überqueren. Dabei umrunden sie etwa ein Drittel des Erdumfangs.

Der Beginn der Kelvinwellen-Ausbreitung liegt in einem initialen Westwindstress im zentralen Pazifik, der bei einer Abschwächung der Passatwinde entsteht.

Die Kelvin-Welle hat ihre höchste Amplitude am Äquator und erstreckt sich mit abnehmender Intensität bis ca. 1.000 km nördlich und südlich des Äquators. Die Amplitude der Kelvin-Welle beträgt mehrere Zehner von Metern entlang der Thermokline (Sprungschicht: diese ist die Grenzfläche zwischen warmen Oberflächenwasser und kaltem Tiefenwasser), sie bewegt sich somit in ca. 100 - 200 m Tiefe, erscheint an der Wasseroberfläche aber nur 5-10 cm hoch. Die Thermokline dient der Kelvin-Welle als Leitfläche. Kelvin-Wellen sind meistens singuläre, großräumige Aufwölbungen und besitzen Wassertemperaturen, die bei einem El Niño-Ereignis ein paar Grad höher sind als umgebende Wassermassen. Generell sind bei der Kelvin-Welle wie bei der Rossby-Welle die Wellenlängen größer als die Wassertiefe.

Äquatoriale Kelvinwellen spielen eine entscheidende Rolle bei der Lageveränderung der Thermokline. Da die äquatoriale Ozeanzirkulation auf Windschub reagiert, übertragen äquatoriale Kelvinwellen entsprechende Signale rasch vom westlichen zum östlichen Ozeanrand. Interne Kelvinwellen, die sich entlang der Thermokline bewegen, benötigen ca. zwei Monate um den gesamten äquatorialen Pazifik zu durchqueren. Die äquatorialen Wellen beeinflussen aber die Meeresoberflächentemperatur nur im Ostpazifik, weil dort die Thermokline dicht unterhalb der Oberfläche liegt.

Diese sich entlang der Thermokline bewegenden äquatorialen Kelvinwellen spielen eine wesentliche Rolle im ENSO-Zyklus. Sie unterstützen eine positive Rückkopplung zwischen den Anomalien der zonalen Winde im zentralen Pazifik und der Meeresoberflächentemperaturen im Ostpazifik. Eine Westwindanomalie bewirkt Kelvinwellen mit Downwelling, die sich in den Ostpazifik fortbewegen, dabei die Thermokline nach unten drücken und zum Anstieg der Meeresoberflächentemperaturen (SST) führen. Dies verstärkt seinerseits die Westwindanomalie über dem Zentralpazifik, indem das ostwärts gerichtete Luftdruckgefälle erhöht wird. Diese positive Rückkopplung ist ein Mechanismus, der die ENSO-bedingte Erhöhung der SST bewirkt.

Den Kelvinwellen kommt also eine entscheidende Bedeutung bei der Wechselwirkung zwischen Ozean und Atmosphäre zu: Sie sind das entscheidende Bindeglied zwischen den Windveränderungen im Westpazifik und den Temperaturveränderungen im Ostpazifik.

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Schematische Darstellung einer äquatorialen Kelvinwelle

Schematische Darstellung einer äquatorialen Kelvinwelle auf einem Schnitt entlang des Äquators (A) und senkrecht zum Äquator (B). Der sich nach Osten verlagernde Wellenberg bewirkt eine Anhebung der Meeresoberfläche und eine Absenkung der Sprungschicht, die mit Druckgradienten verbunden sind.
Unter dem Einfluss der Corioliskraft wird unter dem Wellenberg der ostwärtige Strom (+) über der Sprungschicht und der westwärtige Strom (•) unter der Sprungschicht verstärkt. (Nach Mysak, 1986)

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Auftreffen einer äquatorialen Kelvinwelle auf die Küste

Schematische Darstellung des Auftreffens einer äquatorialen Kelvinwelle auf die Küste unter Umformung in Kelvinwellen, die an der Berandung polwärts wandern, und Rossbywellen, die sich nach Westen ausbreiten. (Nach Mysak, 1986)

Quelle: Arntz/Fahrbach (1991): El Niño - Klimaexperiment der Natur

Die Küste lenkt die äquatoriale Kelvin-Welle wie eine Leitplanke nach Norden und Süden (Küsten-Kelvinwelle). Gleichzeitig wird eine nach Westen wandernde Rossby-Welle ausgelöst. Diese werden schließlich am westlichen Ozeanrand reflektiert und kehren als Kelvinwellen mit Upwelling nach Osten zurück. Dieses Mal transportieren die Kelvinwellen ein Abkühlungssignal, das Temperaturgefälle zwischen West- und Ostpazifik verstärkt sich. Diese negative Rückkopplung stellt einen Mechanismus dar zur Wende des gekoppelten Systems in seine gegenteilige Phase, die La Niña-Phase und erhält auf diese Weise den ENSO-Zyklus.

Den Durchgang von Kelvin- oder Rossby-Wellen kann man mit Hilfe von Temperaturmessungen der oberen 400-Meter-Schicht des äquatorialen Pazifik verfolgen (s. Abb.). Die Wärmesensoren des dort ausgelegten TAO-Bojenfeldes messen die Tiefenlage der Thermokline, die dort etwa mit der 18 °C-Isotherme gleichzusetzen ist und deren Lage sich beim Durchgang einer Welle verändert. Eine weitere Möglichkeit um Kelvin-Wellen nachzuweisen ist, sich die Anomalie der Temperatur entlang eines äquatorialen Zonalabschnittes durch den Pazifik anzusehen (Anomalie relativ zum Temperatur-Jahresgang).

So konnte man bereits im Dezember 1996, ein halbes Jahr vor dem Einsetzen des vorletzten großen El Niños, in etwa 100 bis 200 Metern Tiefe im äquatorialen Westpazifik eine warme Anomalie ausmachen, die langsam ostwärts wanderte. Diese Anomalie kann man mit einem Kelvin- Wellen-Paket identifizieren. Interessant ist auch die Tatsache, dass diese Wellen ihre stärkste Ausprägung in der Tiefe haben; man spricht daher auch von „internen“ oder „baroklinen“ Wellen. Das Wellenpaket erreichte im April 1997 den Ostpazifik. Vier Monate später hatte sich dort die Meeresoberfläche infolge der Wechselwirkung mit der Atmosphäre bereits stark erwärmt und El Niño war in vollem Gang.

Die durch den geringeren Temperaturgradienten zwischen West- und Ostpazifik abflauenden Passatwinde verursachten ihrerseits Störungen im Westpazifik, verbunden mit ungewöhnlich niedrigen Temperaturen in der Tiefe. Diese kalten Temperaturanomalien, die man mit einem Rossby-Wellen-Paket identifizieren kann, bewegten sich nach der Reflektion am Westrand als Kelvin- Wellen-Paket nach Osten und lösten hier im Jahr 1998 ein La Niña-Ereignis aus.

Entwicklung der Temperatur-Anomalien in den oberen 400 m des äquatorialen Pazifiks Dezember 1996 - September 1998

Entwicklung der Temperatur-Anomalien in den oberen 400 m des äquatorialen Pazifiks Dezember 1996 - September 1998

Die zeitliche Entwicklung der Temperaturen in den oberen 400 m des äquatorialen Pazifiks zwischen Dezember 1996 und September. Dieser Zeitabschnitt ist durch die Entwicklung eines starken El Niño und einer starken La Niña gekennzeichnet. Die Temperaturanomalien sind in Abständen von 3 Monaten gezeigt. Man erkennt deutlich zunächst die ostwärtige Wanderung einer warmen Anomalie, gefolgt von der Wanderung einer kalten Anomalie. Auf diesen Anomalien basiert das Vorhersagepotenzial von ENSO.

Quelle: Latif 2004, Leibniz-Institut für Meereswissenschaften, Grafik von TAO

Die Periode von etwa 4 Jahren, mit der die Meeresoberflächentemperatur im tropischen Pazifik oszilliert, ist maßgeblich durch die Beckenbreite des Pazifiks gegeben, welche die Laufzeit der äquatorialen Wellen bestimmt. Allerdings muss man die Überlagerung vieler Wellen betrachten, um die Periode zu erklären. Der Einfluss der Beckenbreite erklärt auch die im Vergleich recht kleine Oszillationsperiode von etwa 2 Jahren des nur etwa halb so großen äquatorialen Atlantiks. Der Indische Ozean besitzt keine El Niño-artige Oszillation, da er praktisch keine Ost-West-Asymmetrien längs des Äquators aufweist und infolge der Land-Meer Verteilung durch die Monsunwinde dominiert wird.

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